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Der "verbotene" Herz-Schmerz-Reim - Eine kurze Reflexion

Aktualisiert: 31. Dez. 2023


Herz - Schmerz

In Gedichten und Liedern sollte Herz um Himmels Willen bloß nicht auf Schmerz treffen, Saft nicht auf Kraft, Wut nicht auf Glut. Denn diese Reime gelten als abgedroschen, allgemein verpönt, peinlich und kitschig wie man immer mal wieder hört und liest. Während jene Dichter*innen, die derartige Reime erstmals ins Leben schrieben – beim Herz-Schmerz-Reim soll es um das Jahr 870 der Mönch und erste namentlich bekannte althochdeutsche Dichter Otfried von Weißenburg mit den Zeilen "thaz min líaba herza, bi thiu rúarit mih thiu smérza" (etwa: "sie haben es mir genommen dies mein liebes Herz, darum rühret mich der Schmerz") gewesen sein – zu ihrer Zeit wahrscheinlich als Genies gefeiert wurden, gibt es nach mehr als eintausend Jahren eindeutig Abnutzungserscheinungen. Eine gewisse Peinlichkeit des Herz-Schmerz-Reims stellte Arno Holz bereits im 19. Jahrhundert in den Raum.


Doch was ist heute schon wirklich neu?

Und verliert ein Reim an Sinnhaftigkeit, nur weil er alt ist, millionenfach wiederholt wurde und dadurch ausgelutscht erscheint?

Oder haben Herzenssachen an sich sehr schnell etwas Peinliches, Kitschiges, vor allem in unserer eher kopfgesteuerten Kultur?

In Südamerika beispielsweise scheint dies – zumindest meinen dortigen Erfahrungen nach – überhaupt kein Thema zu sein. Fühlen ist stets erlaubt, gerade in der Poesie. Auch ewige Wiederholungen sind dabei kein Problem, insofern diese mit echtem Fühlen verbunden sind, denn genau dieses Fühlen erfrischt und belebt das Gesagte und/oder Gesungene immer wieder neu ... (aber ja, schon klar, man muss es deswegen auch nicht gleich übertreiben :) )


In einer sympathischen Runde kreativer Liedermacher*innen beobachtete ich neulich kollektives Augenrollen, als jemand versehentlich innerhalb einer freien Improvisation ausgerechnet den „verbotenen" Herz-Schmerz-Reim beanspruchte. In diesem Moment dachte ich mit einem winzigen Anflug von Scham an den Titelsong meines gerade frisch gepressten Albums mit heilsamen Liedern & kleinen Chants.

In diesem mantra-ähnlichen vierzeiligen Lied („Ich atme Sterne“) reimt sich Herz nämlich auf Schmerz, und zwar ganz gewiss nicht mangels anderer Einfälle. Vielmehr musste es unbedingt genauso und nicht anders sein!

Wie sonst soll er denn heilen, wenn nicht dadurch, dass wir unseren Schmerz (um den man irgendwann nun einmal nicht drum herumkommt, insofern man es mit der seelischen Heilung wirklich ernst meint) in unser Herz einladen, ihn liebevoll zu uns nehmen und umarmen wie ein weinendes Kind? Lauschend, singend oder fühlend oder am besten alles gleichzeitig und ganz besonders letzteres ... Und zwar so oft und so tief wie es eben notwendig erscheint (aber - gerade im traumatherapeutischen Kontext - natürlich immer nur in der Dosis, die gerade passt und erträglich ist).

Und dabei muss es gar nicht unbedingt immer um Liebe gehen!

Oder geht es vielleicht am Ende doch IMMER um Liebe...?

Liebe im weiteren Sinne, der aber im ganz persönlichen beginnt?!

Liebe, die uns wieder verbindet anstatt trennt, Liebe, die uns unser Mitgefühl zurückschenkt, mit uns selbst, mit anderen Menschen, mit den Tieren und Pflanzen, mit der Erde, mit allem was lebt. Und gesellt sich dann zu dieser persönlichen und irgendwie auch spirituellen Ebene nicht sogar eine politische und globale hinzu?!


Die Ökophilosophin Joanna Macy sagte im Hinblick auf die Situation der Erde:

"What we most need to do is to hear within ourselves the sounds of the earth crying."

Und bedeutet das nicht auch, sie mit all ihrem Weinen (und Lachen) zu fühlen, und zwar - ja genau!! - im Herzen??

C.G. Jung stellte zudem wiederholt die Wichtigkeit des Einzelnen für das kollektive Ganze dar:

"Der einzelne ist der Lebensträger. Jeder Einzelne trägt das Leben und das Leben ist nur von Einzelnen getragen. Es existiert an sich nicht, es gibt kein Leben von Millionen! Das ist Unsinn. Sondern Millionen Individuen sind Lebensträger und in jedem ist das Problem ein Ganzes [...] Sich selber ernst nehmen gilt als Untugend [...] man begegnet überall dieser Unterbewertung der menschlichen Seele... "


Während ich mir all das in jenem gemeinsamen Moment in Erinnerung rief, zog sich die Scham sofort schämend in eine Ecke zurück.

Die Sache mit dem Herz und dem Schmerz scheint also nicht nur auf der ganz persönlichen Ebene wichtig, sondern zudem irgendwie auch noch von globalem ökologischen Ausmaß zu sein...

Insofern stehe ich sämtlichen alten und neuen Spöttern und Spötterinnen wie auch dem Risiko als komplett "uncool" und "peinlich" abgestempelt zu werden zum Trotz zu "meinem" Herz-Schmerz-Reim. Und zwar mindestens zu zweihundert Prozent!


Von Herzen,

Margrit






Ps: Falls Du Lust verspüren solltest, mal ein bisschen in Deinen eigenen Herzraum einzutauchen, dann kannst Du dies gern mit dieser kleinen Tiefenimaginations-Reise tun:




Quellen:

C.G. Jung: Der Einzelne, das Religiöse und das Transzendente (Gespräch von 1960) https://www.youtube.com/watch?v=ezsd4GuWQwU

Joanna Macy: Climate Crisis as a spiritual path. - Interview: https://www.youtube.com/watch?v=bQAYVKqTkKo

sowie:


Herzfoto von 51581 auf Pixabay


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